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Neue Zürcher Zeitung Samstag/Sonntag 18./19. November 2000 – Nr. 270 131

LEBENSART

Texte: Elisabeth Gut Bozetti Illustrationen: Biagio Mastroianni

Der Ambra di Talamello oder wie der Käse in die Grube kam
Ende November feiert ein Dorf in Italien ein besonderes Fest – die “Ernte” eines Käses

Gefeiert als Aphrodisiakum, gehandelt wie eine seltene Perle, ist er seit einigen Jahren der Dernier Cri auf jedem Hochzeitsbankett zwischen Rimini und Rom, das auf sich hält: der “formaggio di fossa” alias Ambra di Talamello. Das zu Bernstein geläuterte fossile Harz aus dem Baltischen Meer hat den Namen des in Gruben gereiften Käse aus dem romagnolischen Marecchiatal Pate gestanden. Gemeinsam sind Ihnen die charakteristische Farbe und die Zeit Ihrer Reife im Innern der Erde. Den Käse mit seinen unverwechselbaren Eigenschaften gibt es schon lange, seinen poetischen Namen – inzwischen geschütztes Markenzeichen – trägt er erst seit wenigen Jahren. Jetzt, wo das Kind endlich einen Namen hat, scheint es seinen Erzeugern gleich weniger bescheiden. Im Gegenteil, das in die heimische Küche verbannte Aschenputtel von einst beginnt sich in ein umschwärmtes Goldmariechen zu verwandeln.

Die Geschichte vom Aschenputtel aus Talamello geht so: Es war einmal vor langer Zeit ein kleines Dorf in einem schönen Land. Von der einen Seite des Dorfes ging der Blick hinüber auf eine Hügelkette, auf der wie Nester in der Baumkrone die Festungen S. Leo, S. Marino und Maioletto hockten, dazwischen floss in vielen Verästelungen der Fluss gemächtlich dem Meer zu. Rundum, soweit das Auge reichte, ersträckten sich saftige Hügel. Aber es herrschte kein Friede in diesem Land, immer wieder zogen kriegerische Meuten plündernd von Ort zu Ort. Die Angst um ihre Vorräte begann den Dortfbewohern den Schlaf zu rauben. Doch Gefahr macht erfinderisch, und so versteckten ihre Säcke mit Getreide, Schinken, Salami, Käse und das Öl in den Tuffsteinhöhlen, über die das Dorf gebaut war. Bald merkten sie, dass die mit dicken Steinplatten verschlossenen Höhlen ein sicheres Versteck und in der heissen Jahreszeit eine ideale Lagerstätte für die verderblichen Nahrungsmittel waren. Mit dem Käse allerdings schien im innern der Gruben eine geheimnissvolle Wandlung vor sich zu gehen: Gelb wie manche Kiesel, leicht und trocken, mit einem nie vorher gekannten, ganz eigenen Geschmack kam er wieder daraus hervor. Der formaggio di fossa war geboren.

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